Türkei unzensiert 1/4 (Turecko bez cenzury, 2016)
Kürsat Akyol, 49 Jahre. Hat in seiner Karriere schon für die meisten türkischen Zeitungen gearbeitet. War Kriegsreporter, auch für die BBC im Einsatz, mit Kontakten zu internationalen Spitzenpolitikern. Inzwischen sind es nur noch die ausländischen Medien, die ihn beschäftigen. Den türkischen Medienhäusern ist sein Blick auf Themen wie Bürgerrechte und Minderheitenrechte zu kritisch. Kürsat Akyol schweigt darüber nicht. Er berichtet, wie der Ausnahmezustand den Alltag in der Metropole Istanbul bestimmt.
Ich wohne auf der europäischen Seite Istanbuls, in einem relativ großen Kiez oberhalb des Bosporus. Es ist eine Art Mikrokosmos, in dem alle Widersprüche der Stadt sichtbar sind. Die Hauptstraße, die unseren Kiez in zwei Hälften teilt, bildet zugleich eine scharfe Grenze. Richtung Bosporus wimmelt es von schicken Villen und kleinen oder großen bewachten Wohnanlagen. Die andere Seite ist aber dicht besiedelt mit einfachen, kleinen Wohnhäusern, die auf Renovierung, ja auf die unvermeidbare Gentrifizierung warten.
Einen Abschnitt von 150 bis 200 Metern auf der Hauptstraße bildet das geschäftige Zentrum unseres Stadtteils – hier spielt sich auch das gesamte soziale Leben ab. Hier machen die Cig-Köfte-Imbiss-Läden den größten Umsatz. In unserem Viertel kommen immerhin sechs Cig-Köfte-Imbisse auf vier Juweliere.
Gestern war ich mit einem Freund in einem dieser Cig-Köfte-Imbisse. Mein Freund bat um Minze zu seinen Hackbällchen. Der Wirt, ein Mann in den 20ern, schüttelte heftig den Kopf, als ob er nur auf diese Bitte gewartet hätte. “Schau mal, Kumpel”, sagte er, “ich serviere keine frische Minze mehr”. Und warum? “Na, weil meine Umsätze eingebrochen sind. Die frischen Minzeblätter halten nicht lange. Ein Bund Minze kostet mich 1,5 Lira oder ca. 50 Amerikanische Cent.”
Vom Regen in die Traufe
Die Devisenkurse sind in der Türkei Gesprächsthema Nummer Eins. Auf der Straße und im Kabinett, in der Opposition und unter Geschäftsleuten – es gibt keinen anderen Gesprächsstoff mehr. Den außerordentlichen Anstieg der Dollar- und Euro-Kurse verbindet die Regierung mit dem blutigen Putschversuch vom 15. Juli. Der türkische Währungsverfall sei durch dieselben bösen Mächte angezettelt. Vom politischen Ausnahmezustand sind wir also zum wirtschaftlichen Ausnahmezustand gekommen – vom Regen in die Traufe.
Staatspräsident Erdogan und seine Regierung, die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt, haben gewiss den größten Anteil an der jetzigen wirtschaftlichen Misere. Ein Freund, Wirtschaftsprofessor an einer Universität, erklärt mir das so: “Manche behaupten, es gäbe eine partielle Wirtschaftskrise im Land. Ich aber sage, dass die Krise noch gar nicht richtig eingetreten ist. Ja, sie wird kommen, aber es ist noch nicht so weit.”
“Nun gut”, sage ich, “Warum behauptet Erdogan dann, dass eine weltweite Krise an der Türkei vorbeiziehen wird, so wie es 2008 der Fall war?” „Das ist ja gerade das Interessante”, antwortet mein Freund, “Erdogan ist der Letzte, der das Wort Krise in den Mund nehmen sollte! Das ist Gift für die Wirtschaft, psychisch verheerend. Aber er ist der Erste gewesen, der davon sprach!”
Lange Schlangen vor den Devisenbüros?
In den sozialen Medien macht gerade ein Witz die Runde. “Ich verdiene leichtes Geld”, heißt es da, “bevor der Staatspräsident zu reden anfängt, kaufe ich US-Dollar, und wenn er seine Rede beendet hat, verkaufe ich wieder.” Tatsächlich schnellten die Kurse in die Höhe, als Erdogan neulich live in allen Fernsehkanälen die Bürger dazu aufforderte, ihre Ersparnisse in ausländischer Währung in türkische Lira umzutauschen. Erdogans Argument war, dass die Putschisten vom 15. Juli jetzt die Wirtschaft sabotierten und das Volk darauf mit einem Sturm auf die Lira und auf Gold und einer Absage an Devisen antworten solle.
Die Reden Erdogans zeigten in unserem Viertel mit den vier Juwelieren offenbar keine Wirkung. Zwei der Juweliere, mit denen ich sprach, erzählten, dass es keinerlei Ansturm auf ihre Läden gab, um Dollar in Lira umzutauschen. Einer meinte: “Es gibt Leute, die mit 300 oder 500 Dollar kommen und Gold kaufen. Es gibt auch welche, die 100 oder 200 Dollar verkaufen. Aber von Tausenden von Dollar und Euro kann keine Rede sein.”
Wenn man auf die Zeitungen und Nachrichtenkanäle hört, hat Erdogan mit seinem Appell Großartiges bewirkt. Verschiedene Kommunen, Berufsorganisationen und Prominente unterstützten den Aufruf, Devisen in türkische Lira umzutauschen, um den Verfall der einheimischen Währung zu stoppen. Reporter berichteten von langen Schlangen vor den Devisenbüros.
Sogar Blüten sind teurer geworden
Es gab auch symbolische Akte von Geldverbrennung zu sehen. Dazu muss man wissen: In der Türkei werden Braut und Bräutigam auf Hochzeiten der Neureichen gerne mit Dollar- und Euroscheinen beworfen. Die Gäste mögen es auch, den jungen Leuten die Scheine mit Stecknadeln anzuheften. Auf Hochzeiten der Armen wiederum fliegen gefälschte Dollarbündel durch die Luft, die man sich vorher für günstig in dem Schreibwarenladen um die Ecke besorgt hat. Die Dollar-Scheine , die nun auf den Istanbuler Strassen verbrannt werden, sind nicht echt. Aber auch die Blüten kosten mittlerweile das Fünffache als zuvor – Angebot und Nachfrage!
Auf der anderen Seite gibt es Kleinhändler und Firmen, die Erdogans Aufruf zum Umtausch der Devisen in Lira mit originellen Kampagnen unterstützen. “Wechsle 100 Dollar, bring mir den Kassenbon und du kriegst einen Haarschnitt umsonst”, schreibt zum Beispiel ein Barbier; ein Gastwirt wiederum spendiert jedem, der 200 Dollar in Lira tauscht, eine komplette Mahlzeit. Das alles gibt natürlich genug Anlass zum Schmunzeln. So schreibt ein Rechtsanwalt in den sozialen Medien: “Wer 500 Dollar in Lira umtauscht, kriegt von mir ein Scheidungsverfahren umsonst. Denn du bist ein Idiot und deine Frau verdient wahrlich einen Besseren!”
Daneben gibt es regierungsnahe Journalisten, die so intelligente Kommentare von sich geben wie: “Der Dollarkurs ist doch nicht unser Problem, darüber sollen sich doch die Amerikaner den Kopf zerbrechen”, oder: “Wer Devisen kauft und die nationale Wirtschaft torpediert, ist ein Landesverräter, sein Geld gehört beschlagnahmt!”
Stets brachten Wirtschaftskrisen Regierungen zu Fall
Nach Ansicht von Experten sind die internationalen Märkte am Werteverlust der Türkischen Lira um ca. 15 Prozent in einem Monat schuld. Die Währung der Entwicklungsländer verliert überall an Wert. Andere weisen auf Entwicklungen in der Innen- und Außenpolitik der Türkei hin. Die militärische Einmischung in Syrien, die sich tagtäglich verschlechternden Beziehungen zur EU, der Rückgang auf dem Tourismussektor, das von Erdogan forcierte Präsidialsystem und sogar das Krisengerede der Regierung – alles spielt nach Meinung der Experten eine Rolle.
Denn Devisen sind für die Türken ein wichtiges Mittel, um Geld zu sparen. Während des Militärputsches 1980 war es verboten, ausländisches Geld mit sich zu führen. In den 1990ern und 2000er Jahren gab es stets lange Schlangen vor den Devisenbüros: Weil die Türkische Lira so unzuverlässig war, wollten die Leute ihr Geld sofort in Dollar oder Euro umtauschen. Jetzt, vor der aktuellen Regierungskampagne, machten Sparkonten in harter ausländischer Währung rund 36 Prozent aller Ersparnisse aus. Präsident Erdogan ist der Meinung, dass sein Ausnahmezustand in der Wirtschaft ein voller Erfolg war. “Unser Volk war opferbereit und hat 2,5 Milliarden Dollar umgetauscht. Damit haben wir die Pläne der Imperialisten durchkreuzt”, gab er kürzlich bekannt.
Aber wie ein Kollege sagt, birgt die beginnende Wirtschaftskrise das Potenzial, Erdogans Präsidialsystem und die Zukunft seiner Regierung ins Wanken zu bringen. Stets waren es Wirtschaftskrisen, die in der Türkei Regierungen am Ende abtreten ließen. Deshalb kontert Erdogan nun, indem er das Präsidialsystem noch stärker forciert und den Wählern ständig etwas von bösen ausländischen Mächten und den Putschisten erzählt.
7. Dezember 2016: Das Los der Hochschullehrer
Vor ein paar Wochen rief mich ein Freund an, ein Hochschuldozent. Er fragte mich, ob ich einen Videoclip gesehen habe, der sich in den sozialen Netzen gerade rasend schnell verbreitet. Hatte ich nicht. Aber höchstwahrscheinlich haben Sie ihn gesehen. Denn der Clip wurde im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, die Person, die in dem Video zu sehen ist, wurde von deutschen Journalisten mehrfach interviewt. Doch im türkischen Fernsehen wurde nichts gezeigt, mangels TV-Sendern, die nach dem Putschversuch noch von so etwas berichten können und wollen.
Was sieht man nun auf dem Video? Eine junge Frau steht in Ankara, in einer der belebtesten Straßen der Stadt vor dem Denkmal für Menschenrechte. Sie trägt ein Plakat und spricht Passanten an. Sie versucht, ein Flugblatt zu verteilen. Auf dem handbemalten Plakat steht: „Ich bin vom Dienst suspendiert und will meine Stelle zurück.“ Ihre Aktion dauert nur ein paar Minuten. Die Polizei schafft die junge Frau Hals über Kopf weg und nimmt sie fest.
Am nächsten Tag steht sie aber wieder da. Diesmal mit einer Handvoll Mitdemonstranten. Die Polizei lässt auch dieses Mal nicht lange auf sich warten. An den bisher 22 Tagen ihres hartnäckigen Protestes wird sie nur zweimal nicht vorübergehend festgenommen. Ihr Name: Nuriye Gülmen.
Nuriye Gülmen gehört zu jener Berufsgruppe, die unter dem Ausnahmezustand am meisten leidet. Tausende ihrer Kollegen sind bereits vom Dienst suspendiert, entlassen oder festgenommen. Sie ist Hochschullehrerin.
Rund 20.000 Akademiker verloren ihre Arbeit
Auf den Putschversuch folgte der Ausnahmezustand, und als erste Maßnahme schloss die Regierung 15 private Universitäten und Hochschulen. Sie standen der verbotenen islamischen Gülen-Gemeinde nahe, hieß es. Die Regierung beschuldigt diese Organisation, hinter dem Putschversuch zu stecken. An diesen Universitäten arbeiteten an die 3.000 Akademiker.
Weitere 4.000 Professoren, Dozenten und wissenschaftliche Mitarbeiter anderer Universitäten wurden nach und nach entlassen. Sie sind jetzt für immer für den öffentlichen Dienst gesperrt. Das heißt: Sie dürfen in keiner staatlichen Einrichtung, aber auch in keiner privaten Universität oder Hochschule mehr arbeiten. Der Bildungsauftrag ist öffentlich.
Dazu kommen über 13.000 Akademiker, die wie Nuriye Gülmen noch in der Ausbildung sind und im Rahmen eines „Programms zur Weiterbildung des Hochschulpersonals“ Aussicht auf eine feste Stelle hatten. Zusammengenommen bedeutet das: Seit dem Putschversuch Mitte Juli haben an die 20.000 Akademiker ihre Arbeit verloren.
Was wird ihnen vorgeworfen? Sie sollen mit den Putschisten, also der so genannten „Terrorganisation des Fethullah Gülen“ in Verbindung stehen. Seit dem Putschversuch wirft die Regierung den Gülenisten außerdem vor, gemeinsame Sache mit der kurdischen PKK zu machen. Das erschwert die Vorwürfe.
„Wenn sie reden, können sie ihre Freiheit verlieren.“
Die Ermittlungen wurden ausgeweitet auf die linken Gewerkschaften. Die linke KESK, Verband der Arbeiter und Angestellten im Öffentlichen Dienst, geriet ins Visier der Staatsanwaltschaft. Hunderte von Akademikern, die den linken Gewerkschaften angehören, wurden ebenfalls entlassen.
Die Akademiker aus den linken Gewerkschaften machen mit verschiedenen Aktionen auf sich aufmerksam. Aber von dem Hochschulpersonal, das tatsächlich in den Einrichtungen Gülens arbeitete und deshalb seine Stelle verlor, hört man nicht viel. Das hat zwei Gründe: Erstens hat man sie dermaßen zu Landesverrätern abgestempelt, dass sie es nicht mehr wagen, ihren Mund aufzumachen. Zweitens: Die Gülen-Medien sind geschlossen und die anderen Medien wollen sie aus Angst nicht zitieren.
Ein Menschenrechtsaktivist sagt zu der Situation der Akademiker im Umfeld der Gülenisten: „Solange sie nur schweigen, sind sie bloß ohne Arbeit. Aber wenn sie reden, können sie ihre Freiheit verlieren.“ Die Nachrichten geben ihm Recht. Nach dem Putschversuch sind jetzt über vier Monate vergangen, aber es werden immer noch Mitarbeiter von Hochschulen festgenommen und verhaftet, auch wenn sie zuvor gar nicht vom Dienst suspendiert worden waren.
Insgesamt 15 Prozent des Hochschulpersonals der Türkei haben ihren Job verloren – ein herber Schlag für die Universitäten, die ohnehin unter Personalmangel leiden. Wenn man bedenkt, dass ein Hochschullehrer in 25 bis 30 Jahren heranreift, kann die Lücke niemals innerhalb weniger Jahre geschlossen werden.
„Wer kann, der geht“
„Das ist doch nur der Anfang“, sagt die Nichte eines Freundes, selbst Hochschullehrerin. „Ich habe überhaupt keine Zweifel, dass Tausende von Akademikern, die noch Arbeit haben, aber sich unsicher und unglücklich fühlen, die Türkei verlassen werden. Wer kann, der geht. In meinem Umfeld halten jedenfalls alle Ausschau nach einer Stelle im Ausland.“
Ich muss gestehen, in meinem Umfeld sieht es genauso aus. Für mich selbst, wäre das ein gewagter Schritt, ich werde bald 50. Aber für alle um mich herum, die überall in der Welt arbeiten können, ist das nur normal. Es zieht natürlich allen voran die Jüngeren ins Ausland. Hunderte, Tausende sind bereits gegangen.
Hunderte von Hochschullehrern haben Ausreiseverbot, ihre Pässe wurden eingezogen. Und zwar ohne gerichtlichen Beschluss! Einer fragt den Passbeamten am Flughafen nach dem Grund. Die Antwort: „Der diesbezügliche Beschluss unterliegt der Geheimhaltung.“
Nehmen wir einmal an, diesen Menschen wird der Pass nicht entzogen und sie haben auch kein Ausreiseverbot. Sie sind aber arbeitslos. Doch ohne feste Anstellung bekommen sie keine Visa von westlichen Staaten. So erzählt mir ein Akademiker, dass ein Freund kein Visum für Großbritannien bekam, obwohl er dort promoviert hat. Ein Anderer konnte sein Stipendium in Deutschland nicht annehmen, weil sein Reisepass eingezogen wurde. „Keiner kann uns einen nachvollziehbaren Grund, ein vernünftiges Kriterium nennen“, sagt er. „Wer ausreisen darf oder nicht, stellt sich erst am Grenzübergang heraus.“
Jüngere Akademiker haben keine Alternativen
Und er selbst? „Ich habe mit meiner Frau lange Jahre im Ausland gearbeitet“, sagt er, „in den Vereinigten Staaten, in England. Wir sind freiwillig zurückgekommen, um unserem Land zu dienen. Die Zukunft liegt noch in den Sternen, aber ich bleibe so lange hier, wie ich kann.“ „Na gut“, antworte ich, „Sie haben doch Ihren Job verloren! Wohnen Sie nicht zur Miete? Und Ihre Frau wurde doch auch entlassen?“
Er erzählt mir, dass sie im Moment mit der Unterstützung ihrer Gewerkschaft und dem Beistand von Familie und Freunden über die Runden kommen. So lange sie können, wollen sie hier wissenschaftlich weiterarbeiten. Aber jüngere Akademiker aus bestimmten Fachbereichen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, haben keine solchen Alternativen.
Wie unsere einsam Protestierende Nuriye, von der wir anfangs gesprochen haben. Sie steht heute noch in Ankara auf der Straße und verlangt ihre Wiedereinstellung. Als die Polizei sie für das amtliche Ermittlungsschreiben nach ihrer Adresse fragt, wird sie wütend: „Welchen Wohnort habt ihr mir denn noch gelassen? Meine Möbel sind im Lager und ich werde täglich festgenommen. Die einzige Adresse, die ich euch geben kann, ist: Nuriye Gülmen, die vor dem Denkmal für Menschenrechte steht, in Ankara.“
Auch die Zahl der Journalisten, die in meinem Land in den letzten Monaten ihre Arbeit verloren haben, geht in die Tausende. Dazu kommen tausende Offiziere, Polizisten, Richter und Staatsanwälte, Gouverneure, Lehrer, Wissenschaftler und so weiter und so fort. Aber: Man lernt, auf die feinen Unterschiede zu achten.
So ist zum Beispiel Suspendierung nicht dasselbe wie Entlassung. Wer vom Dienst suspendiert wird, kann bei einem Freispruch seine Arbeit wieder aufnehmen. Der Entlassene darf jedoch nicht wieder eingestellt werden – zumindest nicht, solange der Ausnahmezustand gilt. Er hat praktisch keine Hoffnung mehr, in den Staatsdienst zurückzukehren.
Schlimme Folgen hat das für die Existenzgrundlagen der Menschen: Wenn Sie Richter und Staatsanwalt waren oder etwa Dozent an der Rechtsfakultät, werden Sie nicht einmal mehr als Anwalt arbeiten können. Denn auch Rechtsanwälte bekleiden ein öffentliches Amt. Wenn Sie Soldat oder Polizeibeamter waren, darf nicht einmal ein privater Sicherheitsdienst sie einstellen – aus demselben Grund.
Viele haben keine Ahnung, warum sie entlassen wurden
Sogar das Gesundheitspersonal war davon betroffen. Aber aus Mangel an Fachkräften hat man ihnen erlaubt, in Privatkliniken zu arbeiten. Doch finden Sie mal einen Arbeitgeber, der den Mut hat, sie einzustellen. Viele Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger sind immer noch arbeitslos.
Ich sprach vor einigen Monaten mit einem Rechtsexperten für einen Artikel über die Massenentlassungen. Er zitierte ein kritisches Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2006 und sagte: „Das ist nichts anderes als ‚Sozialer Tod’.“ Das stimmt. Diese Menschen finden keine Arbeit mehr und sind nahezu ihrer Existenzgrundlage beraubt. Bei Zehntausenden gibt es nicht einmal eine offizielle Ermittlung. Sie haben keine Ahnung, warum sie entlassen wurden. Und dazu kommt, dass oft auch ihre Ehepartner von ihren Arbeitgebern vor die Tür gesetzt werden.
Und diese Misere betrifft nicht nur den öffentlichen Dienst. Ein Freund erzählte mir jüngst, dass die Privatklinik, in der er arbeitete, am selben Tag geschlossen wurde wie die Privatschule, an der seine Frau als Lehrerin unterrichtete. Weder Gehalt noch Entschädigung – sie haben keinen Cent bekommen. Jetzt suchen sie Arbeit. Bisher vergeblich.
Ein anderer Bekannter, ebenfalls Lehrer, erzählt mir, dass er an einer der besten Universitäten des Landes studiert hat: „Seit Monaten suche ich neue Arbeit“, sagt er, „keiner stellt mich ein. Ich habe nicht einmal als Bauarbeiter anheuern können. Mit diesem Diplom kann ich überall im Ausland arbeiten. Aber sie haben mir die Ausreise verboten. Meine Frau ist auch entlassen. Wir haben ein sechs Monate altes Baby. Wir wissen nicht, was wir jetzt tun sollen.“
„Stehlen, betteln oder sterben“
Die Frau eines inhaftierten Staatsbeamten im Rentenalter klagt darüber, dass ihr Mann ohne triftigen Grund nicht pensioniert wird. Für sie ist das lebenswichtig, denn sie selbst verlor nicht nur ihre Arbeit: „Sie haben alle unsere Konten gesperrt und meine Rente konfisziert. Wegen einer einstweiligen Verfügung haben wir keinen Zugriff mehr auf unseren Besitz.“
Die harten Maßnahmen machen nicht nur älteren Menschen das Leben schwer. Auch ihre Kinder sind davon betroffen. So erzählt mir ein Student von der Verhaftung seines Vaters nach dem Putschversuch. „Unsere Familie hat keinerlei Einkommen mehr“, sagt er. „Der Staat hat das Konto meines Vaters gesperrt. Uns bleiben nur drei Alternativen: Stehlen, betteln oder sterben.“
Solche Beispiele könnte ich endlos weiter aufzählen. Ich will nur noch sagen, dass die Entlassung oder Verhaftung eines Verdächtigen im Moment in der Türkei regelrecht zur Sippenhaft führt. Die gesamte Familie ist betroffen.
Zu diesen juristischen Schritten kommt noch die soziale Diskriminierung. Wer der inzwischen verbotenen Gülen-Gemeinde angehörte, wird gemieden. Ein Menschenrechtsaktivist erzählt, wie das läuft: „Zuerst finden sie keinen Anwalt, der sie verteidigt. Dann verlieren ihre Partner die Arbeit. Manchmal geht auch die Wohnung verloren. Ihre Kinder und Eltern werden entlassen oder in der Schule gemobbt. Ihre Freunde und Verwandten brechen den Kontakt ab, Telefonnummern werden auf dem Handy gelöscht, man entfreundet sie sogar in den sozialen Netzwerken.“
„Es herrscht die nackte Angst“
Die Verdächtigen – denn noch ist ja niemand verurteilt – verlieren jedes Recht auf ein Privatleben. Es gibt Menschen, die deshalb Selbstmord begangen haben. Die Zeitungen sind voll mit solchen Meldungen. Da heißt es dann, ihr Freitod komme einem Schuldeingeständnis gleich. Die Hinterbliebenen werden ein zweites Mal gedemütigt.
Die staatliche Gewalt richtet sich aber nicht nur gegen die Mitglieder der Gülen-Gemeinde, die jetzt als Terrororganisation gilt und für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Die gesamte Opposition ist davon betroffen.
Tausende von Lehrern wurden wegen ihrer Mitgliedschaft in der linken Lehrergewerkschaft Eiiitim-Sen entlassen. Über 100 Hochschullehrer verloren bereits ihren Job, weil sie Anfang des Jahres einen Aufruf zum Frieden zwischen Türken und Kurden unterschrieben haben. Es heißt, der Staat nimmt den Putschversuch zum Anlass, die Opposition insgesamt zu bestrafen. Das Ziel sei, die restlichen Gegner des Regimes einzuschüchtern.
Kurzum, Zehntausende pilgern in der Türkei dieser Tage zu den Gerichten. Manchen wird der Prozess gemacht, andere klagen selbst gegen ihre Entlassung und Beschlagnahmung ihres Eigentums. Die Zahl der Individualklagen vor dem türkischen Verfassungsgericht ist auf sage und schreibe 45.000 gestiegen! Das Gericht rechnet bis Jahresende mit 100.000 Anträgen. Dabei können dort jährlich höchstens 20.000 Akten bearbeitet werden.
Der soziale Tod, er dauert also noch verdammt lange.
23. November 2016: Der Riss geht durch das ganze Land
Merhaba.
Ich heiße Kürsat Akyol. Ich bis 49 Jahre alt und lebe in Istanbul. Seit 28 Jahren arbeite ich als Reporter und kann mich durchaus als einen alten Hasen bezeichnen. Ich habe in all diesen Jahren aus allen möglichen Ecken der Türkei berichtet. Ich habe die Welt bereist. Internationale Konferenzen und Gipfel, Kriegsschauplätze, Konfliktzonen. Ich habe Reportagen geschrieben, Analysen verfasst, Interviews mit Weltpolitikern, mit Lokalgrößen, Experten und dem Volk auf der Straße geführt.
Ich erzähle Ihnen das alles nicht, um mich selbst zu loben. Ich möchte nur auf meinen Erfahrungshorizont hinweisen, auf das, was ich bisher in meinem Leben gesehen und gehört habe. Denn ich hatte eigentlich schon geglaubt, das Staunen verlernt zu haben. Aber die türkischen Zustände belehren mich eines Besseren. Seit Monaten vergeht kein Tag, an dem ich nicht durch eine neue Nachricht überrascht werde. Damit wachsen auch meine Sorgen.
Beginnen wir mit dem Ausnahmezustand.
Er sollte erst nur für drei Monate gelten. Einige Minister im türkischen Kabinett sprachen sogar davon, dass er noch vor Ablauf dieser Frist aufgehoben werden könnte. Nun sagt Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, dass er länger als ein Jahr in Kraft bleiben müsse. Also gehen wir jetzt alle davon aus, dass der Ausnahmezustand in der Türkei ausnahmsweise zur Regel werden wird.
Die Mehrheit kennt einen Ausnahmezustand gar nicht
Eigentlich kennt die Türkei den Ausnahmezustand sehr gut. Er war zwei Jahre vor dem Militärputsch vom 12. September 1980 ausgerufen worden. In den östlichen und südöstlichen Provinzen Anatoliens blieb er ganze 24 Jahre in Kraft. Die regierende AKP war es, die ihn bei ihrer Machtübernahme 2002 außer Kraft setzte.
Die Türken sollten also den Ausnahmezustand schon gut kennen. Aber es stellt sich heute heraus, dass die jüngeren Generationen im Westen des Landes, die den Putsch 1980 nicht erlebt haben, sich unter einem Ausnahmezustand nichts vorstellen können. Südostanatolien scheint ihnen sehr weit entfernt. Irgendwo, weit hinter im Osten der Türkei finden bewaffnete Konflikte statt. Diese Kämpfe entwurzeln Zehntausende und legen ganze Viertel, ja Städte, in Schutt und Asche. Der Ausnahmezustand wurde dort längst zum Normalzustand.
„Ich glaube, sie haben Angst“
Auch in meinem nächsten Umfeld staunen viele. Sie sind gut ausgebildet, aufgeweckt und an den Problemen des Landes interessiert. Ein Freund setzte sich neulich mit mir über Facebook in Verbindung und sagte, ein bulgarisches Fernsehteam würde mich gerne interviewen. Ich war etwas erstaunt. Der bulgarische Fernsehjournalist war nicht minder überrascht. Der Kollege hatte sich schon mit Dutzenden von Menschen in Verbindung gesetzt. Keiner war zu einem Gespräch bereit gewesen. „Niemand will mit uns reden“, klagte er. „Und warum?“ fragte ich. „Ich glaube, sie haben Angst“, entgegnete er.
Kurz darauf rief ich für eine Reportage einen Freund an. Er leitet einen Lehrstuhl an einer der Universitäten Istanbuls. Und tatsächlich: Es behagte ihm nicht, mit mir zu reden, geschweige denn auf meine Fragen zu antworten. Zuerst hielt ich es für ein Missverständnis. Ich dachte, dass er in dem Moment wirklich sehr beschäftigt gewesen sei.
Ein anderer, sehr alter Freund überraschte mich jedoch vollends, als er meine Interviewanfrage ganz offen ablehnte. Seit langen Jahrzehnten kümmert er sich um die Menschenrechte in der Türkei, ein Rechtsprofessor, der seine Meinung in allen Situation mutig äußerte. Ich rief ihn an und frage zuerst, wie es ihm geht. „Eigentlich ganz gut“, meinte er, „ich habe meine Stelle ja noch nicht verloren.“ Das klang bitter. „Du, ich würde Dir gerne ein Paar Fragen stellen.“ „Ich habe keine Zeit, Kürschat“, sagte er. Die Universitätsverwaltung hatte ihn bereits ermahnt, keine Interviews zu geben.
Die Türkei ist zum größten Journalisten-Gefängnis der Welt geworden
Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands haben über 100 000 Angestellte im öffentlichen Dienst ihre Arbeit verloren. Über 10.000 von ihnen sind Hochschulpersonal. Sie sind entweder vorübergehend oder endgültig entlassen. 30.000 dieser Beamten und Angestellten sind angeklagt und warten im Gefängnis auf ihren ersten Verhandlungstag.
Circa 170 unterschiedliche Medien wurden geschlossen. Dazu kommen Hunderte von verbotenen Webseiten. Die Türkei ist mit über 140 verhafteten Kollegen zu dem größten Journalisten-Gefängnis der Welt geworden, wie die Organisation Reporter ohne Grenzen feststellte. Zehn Parlamentsabgeordnete der zweitgrößten Oppositionspartei des Landes wurden ebenfalls verhaftet.
Fast jeder junge Journalist in der Türkei arbeitet eine Zeitlang als Gerichts- und Polizeireporter. Ich hatte solche Anfragen immer abgelehnt. Nun, angesichts dieser unglaublichen Verhaftungswelle bin ich praktisch gezwungen, als Gerichtsreporter zu arbeiten. An manchen Tagen beobachte ich drei, vier unterschiedliche Prozesse. Manchmal finden am selben Tag im selben Justizgebäude fünf verschiedene Verhandlungen von Journalisten statt. Justizpaläste sind zu Treffpunkten von Reportern geworden. Ein Freund sagte mir neulich: „Ich bin in so zahlreichen Fällen angeklagt, dass ich hier in den Verhandlungsräumen heimisch geworden bin.“ Nein, wir können nicht mehr darüber lachen.
Ich frage einen ehemaligen Politiker der kurdischen Partei HDP, wie es seinem betagten Vater geht. „Körperlich ist er eigentlich gut in Schuss“, antwortet er, „aber ich habe meinen Vater noch nie so besorgt gesehen wie heute.“ „Ja? Worüber macht er sich denn Sorgen?“ „Mein Vater wacht jeden Morgen aus dem Alptraum, dass sie mich verhaftet hätten. Er hat recht. Wir wissen tatsächlich nicht mehr, wen sie morgens um 5 Uhr aus dem Bett holen werden.“
Freunde sprechen nicht mehr miteinander
Dann ist da noch die Geschichte mit dem Reisepass. Der Ausnahmezustand lässt zu, dass den wegen Terrordelikten Angeklagten der Reisepass entzogen wird. Nicht nur dem Angeklagten, sondern seiner ganzen Familie wird der Pass weggenommen. Eine Freundin durfte erst kürzlich nicht ausreisen und musse am Flughafen ihren Pass abgeben. Das ist Sippenhaft und ist sogar im Ausnahmezustand unzulässig. „Was soll ich denn jetzt tun?“ fragt meine Freundin, „soll ich mich etwa von meinem Mann scheiden lassen?“ Eine andere Bekannte ist rechtzeitig vor Beginn von Ermittlungen gegen sie mit ihrem Kind nach Europa emigriert. Auch wenn diese eingestellt werden, wird sie nicht mehr in die Türkei zurückkehren. „Soll ich dann etwa zuhause darauf warten, dass sie mir den Reisepass einziehen?“ fragt sie.
Das alles sorgt in der Gesellschaft – und auch in meinem nächsten Umfeld – für eine Atmosphäre der Angst. Manche löschen ihre Konten in Facebook und Twitter. Dazu kommen harte Debatten unter alten Freunden, sogar unter Verwandten in den sozialen Medien; man macht sich gegenseitig Vorwürfe, wer nun für diese Situation verantwortlich sei. Freunde sprechen nicht mehr miteinander, grüßen sich nicht. Die tiefe Polarisierung der Gesellschaft macht sich in allen Bereichen des Lebens bemerkbar.
„Lass uns nicht über Politik reden“
Ich beobachte auch, dass viele ihr Privatleben eingeschränkt haben. Sie gehen morgens zur Arbeit und fahren abends nach Hause. Auf der Straße mag niemand mehr über Politik reden. Und wenn man einmal mit Freunden ausgeht heißt es oft: „Lass uns über etwas anderes als Politik sprechen, wir sehen uns doch so selten!“ Wenn es dann doch unvermeidlich wird, senken sich die Stimmen. Politische Gespräche finden im Flüsterton statt. Sogar Freunde beginnen, aneinander zu zweifeln.
Wie kann es auch anders sein? Denunzieren gehört für manche nunmehr zum Tagesgeschäft. Bei vielen Entlassungen und Festnahmen spielen anonyme Briefe und Emails eine entscheidende Rolle. Wie kann das sein, frage ich mich. Ich habe noch die Stimme eines jungen Akademikers im Ohr, der kürzlich seinen Job an einer Universität verlor: „Meine politischen Ansichten kennt jeder“, sagte er, „jeder weiß, wo ich stehe. Bis heute gibt es keine einzige Ermittlung gegen mich, keine einzige Anklage. Ich frage dich: Auf welcher rechtlichen Grundlage konnte man mich entlassen?“
Die Antwort auf diese Frage steckt vielleicht in der Vorgehensweise der Staatsanwälte. Sogar bei dem Prozess über den Anschlag vom letzten Jahr in Ankara, bei dem mindestens 100 Menschen starben, sagen anonyme Zeugen aus. Ihre Aussagen bleiben geheim.
Die Polizei besitzt außerordentliche Befugnisse. Sie kann Sie, Ihren Wagen, Ihre Wohnung ohne richterlichen Beschluss durchsuchen. Bei einer gewöhnlichen Verkehrskontrolle kann Ihnen ein Beamter mitteilen, dass Ihr Name im Zentralregister für Gesuchte auftaucht – das nennt man GTB, die Abkürzung für „Allgemeine Rasterfahndung“. Was Ihnen dann alles blüht, weiß keiner. Und Sie können nichts dagegen unternehmen. Es kann Ihnen alles Mögliche zustoßen und keiner erfährt es.
Whatsapp-Nachrichten und Foto-Apps besser löschen
Oder Sie werden per Haftbefehl gesucht. Sie halten sich außerhalb ihres Wohnortes oder im Ausland auf. Sie können eines Tages erfahren, dass die Polizei mit einem Rammbock Ihre Tür einschlug und Ihr Haus durchsuchte. Da sie dort alles beschlagnahmt hat, kann zum Beispiel ein Foto auf Ihrem Computer auftauchen, dass Sie mit einem flüchtig Bekannten irgendwo zeigt. Dieses Foto kann nun als Beweis gegen Sie verwendet werden. Deshalb scheint der weiseste Rat heutzutage, alle Whatsapp-Nachrichten und Foto-Applikationen zu löschen.
Sagen wir, Sie sind schließlich tatsächlich festgenommen worden. Auch ohne Haftbefehl können Sie 30 Tage in Polizeigewahrsam bleiben. In den ersten fünf Tagen werden Sie Ihren Anwalt nicht sprechen können. Sie verlieren höchstwahrscheinlich ihre Arbeit. Bis Sie Ihre Unschuld beweisen, wird der Teppich unter Ihren Füßen buchstäblich weggezogen. Und das betrifft nicht nur Sie, sondern Ihre ganze Familie. Ihr Partner kann auch seine Arbeit verlieren, Ihr Kind wird in der Schule gemobbt. Auch nach Ihrem Freispruch oder Ihrer Entlassung wird nichts mehr, wie es einmal war. So werden Sie wohl nicht mehr wieder eingestellt. Denn Sie sind jetzt stigmatisiert. Die Nähe zu Ihnen kann Ihren Kollegen und Freunden zum Verhängnis werden.
Erstmals im Leben denke ich, dass ich Glück habe. Denn ich habe keine Frau, keine Kinder und besitze nicht einmal einen Führerschein. Wenn mir etwas passiert, wird Gott sei Dank niemand anders darunter leiden müssen.
If you enjoyed this post, please consider to leave a comment or subscribe to the feed and get future articles delivered to your feed reader.
Komentáře
Zatím nemáte žádné komentáře.
Napište komentář k článku