Scardanelli (1970)

Stephan Hermlin. Rozhlasová hra. Hudba Ruth Zechlin. Režie Fritz Göhler.

Osoby a obsazení: Hölderlin (Winfried Wagner), Waiblinger (Hilmar Baumann), seine Begleiter (Lothar Schellhorn), seine Begleiter (Peter Groeger), die Gockin (Erika Pelikowsky), Schiller (Hans Gora), Goethe (Alfred Driesener-Tressin), Suzette Gontard (Monika Lennartz). Dále účinkují Petra Kelling, Heinz Bonacker, Heinz Hinze, Jürgen Holtz, Alexander Papendieck, Siegfried Michael Ressel, Günter Sonnenberg, Eckhart Strehle, Ruth Kommerell, Achim Petry, Hans Teuscher, Heidi Weigelt a další.

Nastudoval DDR v roce 1970 (53 min., mono).

Pozn.: Stephan Hermlins einziges Hörspiel entstand 1970 und markiert sowohl inhaltlich als auch formal eine Öffnung des DDR-Hörspiels zu assoziativen Formen der Collage. Ausgehend von einer Verszeile Hölderlins: „… es schlief, indes ich einsam blühte, noch die Welt …“ entsteht aus Dokumenten, Briefen, Originaltexten und Kommentaren der poetische Lebensabriss des Dichters Hölderlin, der sich in der zweiten Hälfte seines Lebens „Scardanellia“ nannte.

Lit.: Marinelli, Lucile: „Scardanelli“ von Stephan Hermlin. In web Laclé des langues, 3. 11. 2013 (článek). – Cit.: Scardanelli, ein Hörspiel von Stephan Hermlin, beschäftigt sich mit dem Schriftsteller Hölderlin am Ende seines Lebens, als dieser bereits verrückt war, blickt aber auch gleichzeitig auf Schlüsselmomente für ihn und die deutsche Geschichte zurück. Die Figur Hölderlin erlangt ihre Bedeutung aus dem Kontext heraus: einerseits aus der Zeit, in der er gelebt hat – die französische Revolution und die Koalitionskriege –, andererseits auch aus der Zeit Hermlins, das heißt die der Deutschen Demokratischen Republik. Nach einer kurzen Biografie des Autors, die uns helfen soll, das Engagement Hermlins und seinen Bezug zu Hölderlin besser zu verstehen, werden wir im zweiten Teil insbesondere auf das Werk Scardanelli eingehen: auf die Entstehung, die Form des Hörspiels und die Hauptmotive, in deren Mittelpunkt der Wahnsinn Hölderlins steht. In Bezug auf das literarische Erbe in der DDR, wollen wir uns schließlich fragen, warum Hermlin gerade die Figur Hölderlins wieder aufnimmt. Einige Antworten zu dieser Frage befinden sich im Anhang Hölderlin 1944, in dem der Schriftsteller seine Gedanken über die Beziehung zwischen Kunst und Politik darstellt. Während er von einigen Erfahrungen erzählt, die er in Frankreich in der Zeit des zweiten Weltkriegs gemacht hat, erklärt er gleichzeitig die Bedeutung, die Hölderlin für ihn erlangt hat. Diese Bedeutung hängt auch mit den Erfahrungen zusammen, die er zu Zeiten der DDR gemacht hat: Hermlin, ein Freund Honeckers und einer der bekanntesten und einflussreichsten Schriftsteller der DDR, möchte hier ein anderes literarisches Erbe rühmen als das, welches vom Staat und dem sozialistischen Realismus gewählt und verbreitet wurde.

Die Biografie Stephan Hermlins soll uns helfen, einerseits seine Beziehung zu Hölderlin und dessen Werk, andererseits seine Stellung in der DDR zu begreifen. Er gehört einer Kategorie von Schriftstellern an, die ursprünglich Anhänger des sozialistischen Regimes waren, später Kritiken äußerten und trotzdem weiterhin vom Staat unterstützt wurden. Eine chronologische Darstellung der wichtigsten Momente seines Lebens zeigt sein Engagement und wirft ein interessantes Licht auf die Parallele mit Hölderlins Leben.

Hermlin ist im Osten Deutschlands, in Chemnitz und Berlin, aufgewachsen. Er tritt bereits mit 16 Jahren dem „Kommunistischen Jugendverband Deutschlands“ bei. Während er ab 1933 eine Lehre als Drucker macht, ist er im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv. Seine jüdische Herkunft treibt ihn ins Exil nach Ägypten, Palästina, England und in die Schweiz. Danach wurde er in verschiedenen Arbeitslagern in Frankreich interniert. Diese Zeit hat nach der Wiedervereinigung zu einer Kontroverse geführt, auf die wir später zurückkommen möchten. Nach dem Krieg kehrt er nach Deutschland zurück. Die Zeit im Exil wirft die Frage nach der Heimat auf, die ein Hauptthema in seiner Auseinandersetzung mit Hölderlin ist.

Nach dem Krieg arbeitet er als Journalist, zuerst als Rundfunkredakteur in Frankfurt am Main, dann ab 1947 in Zeitschriftenredaktionen in Ostberlin: für die Tägliche Rundschau (die Tageszeitung der Sowjetischen Militäradministration), den Eulenspiegel (eine satirische Zeitschrift), den Aufbau (eine kulturpolitische Zeitung), Sinn und Form (eine Zeitschrift für Literatur und Kultur). Nach der Gründung der DDR wird er sofort Mitglied der SED. 1949 schreibt er nach einem Besuch im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sein berühmtes Gedicht Die Asche von Birkenau. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft ist diese Auseinandersetzung mit dem Holocaust besonders wichtig für ihn, und sein Gedicht variiert in zahlreichen Metaphern das Thema der Leichtigkeit des Vergessens. In dieser Absicht tritt er 1950 auch der Akademie der Künste der DDR bei, in der er eine Institution gegen die Nazis sah, die dem Humanismus, dem gesellschaftlichen Fortschritt, dem Frieden und der Kunst verpflichtet sei. Seine Anerkennung durch das DDR-Regime zeigt sich dadurch, dass er Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR wird und viele Preise bekommt (z.B. 1950 den Nationalpreis der DDR, 1972 den Heinrich-Heine-Preis des Ministeriums für Kultur der DDR). Im August 1961 rechtfertigt er in einem offenen Brief an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass den Bau der Berliner Mauer, eine Stellungnahme, die dem heutigen Leser als parteiisch und kurzsichtig erscheint. Die Bezüge auf die Vergangenheit nehmen darin viel Platz ein, und Hermlin zieht eine Parallele zwischen 1961 und 1933, indem er sagt, dass es ab 1961 keine Mauer gegeben hätte, wenn 1933 die Kommunisten an die Macht gekommen wären:

Ich erinnere mich noch sehr genau an das ekelerregende Schauspiel einer sogenannten nationalen Erhebung, das ich am 30. Januar 1933 als ganz junger Mensch am Brandenburger Tor erlebte. Zehntausende von Hysterikern teilten einander damals tränenüberströmt mit, Deutschland sei endlich von der Knechtschaft erlöst. Hätten damals am Brandenburger Tor rote Panzer gestanden, wäre der Marsch nach dem Osten nie angetreten worden, brauchten keine Eichmann-Prozesse stattzufinden und säßen wir heute zu dritt in einer unzerstörten, ungeteilten Stadt am Alex oder am Kurfürstendamm im Café. (Offener Brief von Stephan Hermlin an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass, 17.08.1961)

Was seine literarische Tätigkeit betrifft, ist er einer der Impulsgeber der Lyrik-Welle der 60er Jahre.

Hermlin entwickelt jedoch eine kritische Haltung zur DDR-Politik, besonders im Kulturbereich. Er heißt die Unterdrückung des Prager Frühlings 1968 nicht gut, verfasst 1972 ein Memorandum an Erich Honecker, in dem er die Zensurpolitik der DDR anprangert, und als Wolf Biermann 1976 nach einem Konzert in Köln ausgebürgert wird, nimmt er deutlich Abstand von dem Regime. Dieses Ereignis ist ein ausschlaggebender Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Schriftstellern und dem Staat. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, wie z.B. dem Bildhauer Fritz Cremer, bewahrt Hermlin immer seine kritische Haltung, selbst wenn er deshalb von der Stasi beschattet wird. Aber er wurde nicht aus der SED ausgeschlossen. Es ist wichtig zu betonen, dass er weiterhin vom Staat unterstützt wurde, weil er ein überzeugter Kommunist blieb, obwohl er sich deutlich von der Politik der DDR distanzierte. Hermlin spielt eine Rolle auf der internationalen Ebene, z.B. als Vizepräsident des Internationalen PEN-Klubs ist (poets essayists novelists) und Mitveranstalter des Berliner deutsch-deutschen Treffens zur Friedensförderung im Dezember 1981. Durch diese Tat setzt er sich gegen die offizielle Politik der Ost-West-Konfrontation ein und wird 1976 sogar Mitglied der Akademie der Künste West-Berlins.

Schließlich soll nun aber auch die Corino-Debatte noch kurz erwähnt werden. Der Literaturredakteur Karl Corino unterstellte Hermlin in einem ZEIT-Artikel nicht gerechtfertigte Behauptungen (siehe Corino 1996). Seine Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg und an der Hilfsgruppe der französischen Armee stehen im Mittelpunkt der Kontroverse, die eine der großen Literaturdebatten der deutschen Einheit (neben dem deutsch-deutschen Literaturstreit 1990-91 um Christa Wolfs Erzählung Was bleibt und um die Beziehungen zwischen Literaten und Stasi) auslöste. Hermlin wird vorgeworfen, sein Leben als einen Mythos gestaltet zu haben. Die Debatte unterstreicht, wie eng literarische Konstruktion und politische Bedeutung zusammenhängen. Selbst wenn man Corinos Meinung nicht teilt, zeigt diese kurze biografische Notiz, inwiefern der enge Zusammenhang von Literatur und Politik den Kern des Lebens Hermlins tatsächlich ausmacht.

Stephan Hermlin hat sich besonders mit dem Dichter Hölderlin befasst, in Hölderlin 1944, im Essay Dichter über Hölderlin (1969) und im Hörspiel Scardanelli (1969-1970), das im Rahmen dieser Arbeit analysiert wird: Er hat sich in vielen Genres geübt. Das Stück war jedoch nicht ausschließlich die Idee Hermlins; das Hörspiel ist ein Auftragswerk für den Rundfunk. In der DDR waren die Gedenktage besonders beliebt – natürlich aufgrund ihrer Bedeutung für die Identität – was Peter Gugisch, ehemaliger Leiter der Hauptabteilung des DDR-Rundfunks, die „Kalenderdramaturgie“ nannte (siehe Mach, 2001, S.39). Im Jahre 1970 wurden Beethoven und Lenin als Themen eines Hörspiels vorgeschlagen, da der eine 1770, der andere 1870 geboren ist. Die Hörspielabteilung fragte Hermlin, ob er ihnen die Ehre erweisen würde, dieses Stück zu schreiben. Der Schriftsteller nahm das Angebot an, änderte aber die Hauptfigur und wollte das 200. Geburtsjahr Hölderlins feiern. Das Hörspiel wurde am 9. September 1970 zum ersten Mal im Radio gesendet. Das Buch wurde im selben Jahr beim Wagenbach Verlag veröffentlicht, ein Zeichen für die Offenheit Hermlins, da Klaus Wagenbach die Spaltung der deutschen Literatur in eine west- und eine ostdeutsche Literatur nicht hinnehmen wollte und daher sowohl den im Westen boykottierten Stephan Hermlin als auch den im Osten boykottierten Wolf Biermann veröffentlichte. Die Geschichte der Entstehung des Hörspiels Scardanelli zeigt, wie verkannt Hölderlin war. Dieses Thema kehrt im Stück immer wieder, da der Dichter sich von seinen Genossen unverstanden fühlte. Dies wird in der 8. Szene besonders deutlich: Hölderlin bezeichnet sich als einen „Bettler“ in dieser Welt von „Barbaren“.

Die Form des Hörspiels ist in vieler Hinsicht problematisch. Sowohl bei der Lektüre, als auch – und vielleicht noch mehr – beim Hören, erscheint das Hörspiel sehr konfus. Den Zuhörern fällt es schwer, die Figuren zu erkennen. Deswegen gibt es in der veröffentlichen Fassung einen Anhang, in dem alle erwähnten Personen und Orte erklärt werden. Das Hörspiel besteht aus 15 „Szenen“, die oft schwer zu unterscheiden sind oder deren Zusammenhang unklar bleibt. Ein Hörspiel wird zum Anhören erdacht und unterscheidet sich deshalb von einem Theaterstück: Es werden keine Bewegungen angegeben, sondern nur Beschreibungen der Stimmen (leise, fern, wütend…), und nur wenige Anweisungen, da das Stück ursprünglich nicht für Leser verfasst wurde: die Tür, die sich beim Besuch Waiblingers im Zimmer Hölderlins öffnet und schließt; das Cembalo, das die erste Szene abschließt und den Anfang der Geschichte bzw. die Rückblende ankündigt; die Musik, die den Wahnsinn unterstreicht. Es gibt selten Musik, aber in der letzten Szene gibt sie chromatisch den Rhythmus für die Beschleunigung der Zeit an.

Was die Struktur des Hörspiels betrifft, scheint der Besuch des Anfangs eine Rahmenhandlung zu bilden. Die Szenen gleichen also Rückblenden, die chronologisch Schlüsselmomente aus dem Leben Hölderlins schildern. Man hört die gleichen Geräusche am Anfang und am Ende: „Flußrauschen. Entferntes Wagenknarren. Sich nähernde Schritte“, die einen Kreis bilden: man kehrt zum Ausgangspunkt zurück, mit dem Unterschied, dass man den Wahnsinn Hölderlins nun besser versteht. Der Text ist eine Zusammensetzung aus Berichten, die von Hölderlins Freunden und Gegnern verfasst wurden, und aus Zitaten aus seinem Werk, sowohl aus Gedichten (z.B. Der Zeitgeist, Wenn aus der Ferne) als auch aus Briefen (an Schiller) und Theaterstücken (Ödipus der Tyrann, Hyperion oder Der Eremit in Griechenland). Hölderlin erscheint wie ein „Schatten“ – um die Metapher Suzannes zu gebrauchen (S. 30) –, entweder weil die anderen Figuren von ihm sprechen, als wäre er nicht anwesend, oder weil Hölderlin kein Gespräch führen kann oder oft mit Zitaten antwortet.

Die erste Szene führt außerdem den Ort, die Zeit und die Figuren ein. Es gibt zunächst räumliche („ein hübscher Platz“, „das Haus“…), dann zeitliche („an die zwanzig Jahre“) Hinweise, aber diese bleiben begrenzt und decken keinen breiteren Kontext auf. Die Figuren sind schwer identifizierbar, besonders die sprechenden Personen: Es gibt keine Möglichkeit, beim Hören des Stückes herauszufinden, wer spricht. Wenn die Personen erwähnt werden, ist es einfacher, aber es ist für Waiblinger z.B. nie der Fall, oder für die weibliche Stimme Bettina von Armins. Viele Stimmen bleiben unbenannt, weil sie die Rolle eines Chorus übernehmen. Sie machen Kommentare, stellen Fragen, präzisieren Elemente des Lebens Hölderlins, geben Definitionen an. Alle diese Funktionen werden in den griechischen Tragödien dem Chor zugeteilt.

Schließlich ist für die formalen Bemerkungen die Frage des Genres wichtig. Ein Hörspiel ähnelt in dieser Hinsicht einem Theaterstück, aber welcher Art? Hier enthält das Hörspiel Elemente der Tragödie: die Stimme eines ziemlich kühlen und gleichgültigen Chors; die Figur des Narren, der die Wahrheit sagt; die Liebesszene mit Suzette Gontard, die ihre Leidenschaft äußert; der Tod, der überall anwesend ist; die Kreisstruktur der Handlung, die das Schicksalhafte hervorhebt.

Was besonders auffällt, ist die Art und Weise, wie Hermlin das Thema des Schicksals behandelt. Wie schon erwähnt, mischt er Zitate und Berichte, weil er die Authentizität sucht, und fügt keinen künstlichen Leitfaden der Geschichte hinzu. Zwar findet man tragische Elemente, aber es ist keine Tragödie im engeren Sinn. Der Wahnsinn wird durch mehrere Mittel ausgedrückt: die Namen, mit denen Hölderlin sich selbst nennt („Biebledekarius“, „Scardanelli“); seine unvorhersehbaren Themawechsel; seine Selbstgespräche; seine wechselhafte Laune; die Tatsache, dass er die Fragen nicht beantwortet, die Leute nicht erkennt oder zu höflich zu ihnen spricht. Die Verwirrung betrifft seine Identität und seinen Umgang mit den anderen – das heißt seinen Platz in der Welt –, aber seine Werke kennt er noch, seine Literatur ist, was bleibt, was ewig ist. Diese Verwirrung empfindet auch der Leser: Sie veranschaulicht den Wahnsinn. So kann der Leser besser erschüttert werden und für den Dichter Partei ergreifen. „Schauernde Neugier. Neugierige Schauder“ (S. 11): Dieser Chiasmus beschreibt, wie die Besucher Hölderlins sich fühlen, und das Gleiche gilt für den Leser; diese Mischung aus positivem und negativem Gefühl weist auf die Zweideutigkeit der Figur Hölderlins hin. Einerseits ist er wahnsinnig, andererseits aber kommt diesem Wahnsinn eine höchst politische Bedeutung zu. Hölderlin findet seinen Platz in der Welt nicht mehr, einer Welt, die für den Zustand des großen Dichters Hölderlins verantwortlich erscheint. Dieser politische Aspekt spielt im Rahmen einer Untersuchung des literarischen Erbes in der DDR eine wichtige Rolle.

Hermlin wählt die Figur Hölderlin nicht nur auf Grund ihres dramaturgischen und geschichtlichen Potentials, sondern auch wegen ihrer politischen Bedeutung. Die Frage nach dem literarischen Erbe in der DDR verknüpft Literatur und Politik, und betrifft Hermlin auf eine sehr persönliche Art.

Der kurze Aufsatz Hölderlin 1944 zeigt die Faszination Hermlins für Hölderlin. Schon als er jung war, las Hermlin die Gedichte Hölderlins, dessen Werk ihn sein Leben lang begleitet hat. Er hatte immer ein Buch von dem Dichter bei sich. Das Thema des Erbes wird hier auf eine gefühlsbetonte Art angesprochen. Man darf annehmen, dass der Dichter zur Ausbildung Hermlins beigetragen hat. Die pädagogische Dimension des Erbes ist im Hörspiel wiederzufinden: „Kinder zu erziehen ist jetzt ein besonders glückliches Geschäft, weil es so unschuldig ist.“ (S. 32). Am Ende einer Beschreibung des Wahnsinns macht Waibliger diese seltsame Bemerkung: „Er liebt Kinder“ (S. 44). Früher war von Hoffnung die Rede (S. 35) und tatsächlich bedeuten Kinder, die heranwachsende Generation, Hoffnung auf eine bessere Welt.

Darüber hinaus beschäftigen sich beide Schriftsteller mit der Suche nach einer Heimat. Hermlin hat im Exil gelebt, ist wieder nach Deutschland gekommen, sein Land wurde geteilt, er hat sich ohne Schwierigkeiten für einen Teil entschieden, aber dieser Staat droht ihm damit, ihn auszubürgern, wenn er sich nicht anpasst. „Es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, denn was habe ich Lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen“, sagt Hölderlin (S. 32). Hermlin findet sich in der Figur Hölderlins wieder: Diese Worte gelten nicht nur für seine Erfahrung aus der NS-Zeit, sie können auch eine Warnung sein, da die DDR ein Staat ist, der Hermlin am Herzen liegt und den er nicht verlassen möchte.

Hermlin identifiziert sich auch mit der revolutionären Haltung Hölderlins. Der Dichter wird oft ein „später Jakobiner“ genannt, eine Affinität mit der französischen Revolution, die Hermlin teilt. Das Erbe, das Hermlin nun antreten möchte, ist also sowohl geistig als auch politisch. Im Tübinger Stift begeistern sich die späteren Schriftsteller und Denker Hölderlin, Neuffer, Maganau, Hegel und Schelling für die Revolution gegen die Fürsten. Der letzte Satz des Hörspiels, eine Frage, birgt eine Warnung in sich: „Was hat ihm gefehlt?“. Der Zuhörer soll die Antwort selbst finden, und verstehen, dass die Haltung des DDR-Regimes die dichterische Kreativität beeinträchtigt. Das erinnert an eine Rede Anna Seghers’ auf dem Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935, in der sie eine Liste von Schriftstellern zusammenstellte, die an „Geisteskrankheit“ gestorben sind: „immer war es, als zerschlüge sich die Sprache selbst an der gesellschaftlichen Mauer“. In dieser Liste nimmt Hölderlin den ersten Platz mit dem Kommentar „gestorben im Wahnsinn“ ein. Die anderen erwähnten Schriftsteller sind Georg Büchner, Karoline Günderode, Kleist, Lenz und Bürger. Im Stück drückt Schiller die komplette Kernfrage aus:

Ich möchte wissen, ob diese Schmids, diese Richter, diese Hölderlin absolut und unter allen Umständen so subjektivisch, so überspannt, so einseitig geblieben wären oder ob nur der Mangel einer ästhetischen Nahrung und Einwirkung von außen und die Opposition der empirischen Welt, in der sie leben, gegen ihren idealistischen Hang diese unglückliche Wirkung hervorgebracht hat. (S. 22)

Im Hörspiel wird der Gedanke, dass Hölderlins Genie sich in der Gesellschaft seiner Zeit nicht entfalten kann, durch das Wams ohne Ärmel veranschaulicht, in dem er verschnürt wird: „Man legt ihm ein Wams ohne Ärmel an, das man am Rücken verschnürt. So kann er niemand gefährlich werden. Und wenn er schreit, setzt man ihm die sogenannte Authenriethsche Maske auf, da ist er kaum noch zu hören.“ (S. 42-43). Außerdem ist die Repression in der Zeit Hölderlins mit der Repression in der DDR gleichzusetzen. „Die Republik braucht Ruhe“, sagt ein Offizier in Straßburg, ein Satz, den die DDR-Behörden hätten aussprechen können, besonders was den Prager Frühling betrifft. Hölderlin verteidigt ein Ideal von „Freiheit und Ruhe“ (S. 34), das mit dieser scheinbaren Ruhe nicht übereinstimmt und zunächst eine Revolution braucht.

Das Erbe, mit dem sich Hermlin beschäftigt, ist auch ein künstlerisches Erbe. Die zahlreichen griechischen Bezüge fallen dem Leser auf. Am Anfang des Hörspiels werden Pindos und Helikos erwähnt, beide Berge, in denen sich die Musen aufhalten. Dies klingt wie ein indirekter Verweis auf den Anfang der Ilias mit der Anrede an die Muse. Homer und ein anderer Dichter, Pindar, werden später auch im Hörspiel erwähnt. Das Werk Hölderlins setzt sich häufig mit der Antike auseinander, wie z.B. im Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, dessen Rahmen von dem Befreiungskrieg der Griechen gegen die Türken gegeben wird. Hyperion, der Eremit, kann als eine Projektion Hölderlins verstanden werden. Auszüge aus dem Ödipus von Sophokles, den Hölderlin übersetzt hat, werden auch zitiert. In einem Gespräch mit Kreon sagt Ödipus: „Wirf aus dem Lande mich, so schnell du kannst, / Wo ich mit Menschen ins Gespräch nicht komme“. Hölderlin zitiert diese Stelle als Hinweis auf die eigene Ausschließung aus der Gesellschaft. Auch die Rückkehr an den Ursprung entstammt der literarischen Tradition: „Ich denke, dass wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich eigentlich originell zu singen“ (S. 39). Das Erbe der Antike verleiht Hölderlin eine Legitimität.

Außerdem tauchen in der dritten Szene des Hörspiels Schiller und Goethe als Vertreter der Weimarer Klassik auf. Schiller ist der Beschützer Hölderlins und lobt ihn. Das kann man leicht verstehen, da Schiller Abstand von der Aufklärung und der Vorherrschaft der Vernunft nahm und für eine Wiedereinführung des Gefühls in die Literatur eintrat. Goethe ist zurückhaltender angesichts des Talents des Dichters. Hölderlin stellt zwei Mal die Frage: „Haben Sie mich aufgegeben?“, eine Frage, die an Schiller gerichtet ist, da Hölderlin nach Unterstützung sucht, aber auch an den Zuhörer/Leser oder an den Staat, der es nicht zulässt, dass Hölderlin unter die Vorbilder der sozialistischen Schriftsteller eingereiht wird. Durch Schiller soll Hölderlin im Hörspiel seine Legitimität erhalten. Dennoch muss man betonen, dass er diese Tradition ablehnt: „- Wer sprach da? – Das war Goethe. – Ich kenne ihn nicht“ (S. 22). Das Verb „kennen“ ist hier im Sinne von „anerkennen“ zu verstehen. Hölderlin möchte dieser Tradition nicht angehören, weil sie Anpassung an die bestehende Gesellschaftsordnung voraussetzt.

Die Bezeichnungen, mit denen Hermlin den Dichter am Ende nennt („Holderle“, „Lieber Hölder“, „Holderlen“, „mein Holder“, Hölterlein“, S. 49-50), klingen wie Kosenamen und heben durch die Wiederholung der Silbe „Hold-“ die Nähe dieses Namens zu dem gleich kingenden Adjektiv „hold“ hervor, als Zeichen der persönlichen Zuneigung Hermlins. Hölderlin macht sich auf diese Weise wieder einen Namen: Er erlangt im Kontext der DDR eine erneute Aktualität.

Scardanelli ist ein sehr kurzes Hörspiel, das aber sehr dicht mit Informationen besetzt ist. Es sollen immer zwei Ebenen der Lektüre berücksichtigt werden: die des vom DDR-Regime anerkannten Autors Hermlin und die des sich im Wahnsinn flüchtenden Dichters Hölderlin, die des sowjetischen Besatzungsregimes der DDR-Zeit seit 1945 und die der postrevolutionären Enttäuschungen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Stephan Hermlin stellt hier eine Figur dar, die ihm am Herzen liegt und vor der geistigen Einengung, vor dem Verlust des revolutionären Ideals in der DDR warnen soll. Hölderlin nimmt in der deutschen Literatur neben der Weimarer Klassik und der Romantik eine Sonderstellung ein, die Hermlin gebraucht, um die Freiheit des Dichters zu preisen. Wie das Kind Henri Gontard soll sich der DDR-Bürger die Frage stellen: „bei wem sollen wir denn sonst lernen“ (S. 27), und so das literarische Erbe Hölderlins antreten. Hölderlin war zudem Objekt der Faszination für andere DDR-Schriftsteller, insbesondere Gerhard Wolf mit seinem Roman Der arme Hölderlin (1972), der große Ähnlichkeiten mit Scardanelli aufweist, und Volker Braun mit seinem Gedicht „An Friedrich Hölderlin“ (1975).

Literaturangabe

Grundlagentext

Hermlin, Stephan: Scardanelli, Hölderlin. Verlag Klaus Wagenbach : Berlin, 1970.

Presseartikel

Corino, Karl (1996): „DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin hat seinen Lebensmythos erlogen“, Die Zeit (04.10.1996). URL: zeit.de

Raddatz, Fritz J. (1997): „Zeuge und Zeugnis“, Die Zeit (11/04/1997). URL: zeit.de

Internetseite

Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V: „Stephan Hermlin“ (letzte Änderung September 2008). URL: www.jugendopposition.de

Glaubrecht, Martin (1972): „Hölderlin, Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie 9, S. 322‑332. URL: www.deutsche-biographie.de

Rundkunk Berlin-Brandenburg: „Chronik-Biographie: Stephan Hermlin“. URL: www.chronikderwende.de/lexikon/biografien

Weitere Quellen

Hermlin, Stephan (1961): „Offener Brief von Stephan Hermlin an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass“ (17.08.1961), in: Richter, Hans Werner (Hg.), Die Mauer oder der 13. August, Reinbek, S. 66-68. Online verfügbar : www.chronikdermauer.de

Mach, Wolfram (2001): Stephan Hermlin 1958 – 1989. Versuch einer geistigen Existenzform im Sozialismus. Magisterarbeit, am 01.11.2001 vorgelegt, Humboldt-Universität Berlin, wissenschaftliche Betreuer : Prof. Dr. Frank Hörnigk ; Prof. Dr. Roland Berbig.

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